Neglected wound – die vernachlässigte Wunde

Bis wenige Tage vor Abflug stand nicht endgültig fest, ob wir fliegen würden: zu hoch stiegen die Corona-Infektionszahlen in Deutschland, während sie in Ruanda auf niedrigem Niveau verharren. Ich stand in ständigem Kontakt mit Dr. Nepo im Gesundheitsministerium Ruandas und Dr. Eugene, dem Ärztlichen Direktor des Murunda-Hospitals. Dann erreichten mich zwei Photos von schwerbrandverletzten Kindern, 30-35% verbrannte Körperoberfläche, die seit vier bzw. sechs Monaten ohne chirurgische Therapie in Krankenhäusern Ruandas lagen. Letzte Teambesprechung: wir fliegen!

Alle Teilnehmer sind zwei-, einige schon dreifach geimpft. PCR-Test vor Abreise ist Pflicht. Übermittlung aller Daten nach Ruanda, auch von dort grünes Licht. So kamen wir mittags am 7. November in Murunda an. Es ist schon fast wie ein Nach-Hause-Kommen, viele bekannte Gesichter begrüßten uns. Sehr froh war ich, Francois, unseren Koch, wiederzusehen. Er ist schon in Altersrente (70 % seines letzten Einkommens; er muss mit ca. 100€ im Monat auskommen), kam aber eigens zur Versorgung unseres Teams zurück. Es ist uns Freude, wenigstens für einen Monat sein Einkommen aufzubessern….Unser eigenes Gästehaus wurde schnell bezogen, dann ging es am Nachmittag ins Krankenhaus. Das Chirurgie-Gebäude nebst hochwertiger Ausstattung ist vor 10 Jahren durch Spenden der hiesigen Bevölkerung und weiterer treuer Spender, auch mit Hilfe unseres BMZ und des Bistums Münster, errichtet worden, wird extrem gut genutzt und befindet sich dafür in erstaunlich gutem Zustand.

Während das Anästhesieteam sich um seine Narkosegerätschaften kümmerte, Thorsten den Steri wartete und Silvia mit ihren örtlichen Kolleginnen die Instrumente prüfte, sahen Pavol und ich uns die schon stationär aufgenommenen Patienten – alle negativ getestet – an, zusammen mit Eric und Olivier, den beiden neuen Kollegen im Murunda-Hospital. Die beiden angemeldeten Verbrennungskinder waren schon da, in einem erstaunlich guten Allgemeinzustand. Weiter sahen wir viele junge Patienten mit chronischen Knochenentzündungen, Querschnittsgelähmte mit Druck-Liege-Gschwüren, offene Beine … kurz: das gesamte Spektrum chronischer vernachlässigter Wunden – der Dauerbrenner in Ruanda.

Da BrusselsAir unseren Heimflug um einen Tag vorverlegt hatte, wussten wir, dass wir nur acht volle OP-Tage zur Verfügung hatten, die OP-Pläne hatten wir in wenigen Tagen voll. Von Montag bis Mittwoch hielten Pavol und ich zwischen den OP-Tagen Sprechstunde. Viele Patienten mussten auf Nachfolgeteams bzw. das nächste Jahr vertröstet werden. Während der Sprechstunden sah ich ein Kind wieder, welches wir zwei Jahre zuvor operiert hatten. Die durch Verbrennungsnarben völlig steifen Gelenke des rechten Armes waren frei beweglich – dies zu sehen ist immer wieder faszinierend. Auch Damien, dem wir vor vier Jahren – wegen einer vernachlässigten offenen Unterschenkelfraktur – diesen amputieren mussten, erschien. Heute bereits bekomme ich Bilder seines Orthopädiemechanikers Aimable in Kigali, der ihm die vorhandene Unterschenkelprothese neu anpasst. Die Kosten dafür übernehmen wir, im Land gibt es dafür keinen Fond.

Mit Dr. Rapp hatten wir einen ausgewiesenen Kinder-Anästhesisten mit im Team. Erst dieser Umstand ermöglichte die Operationen an den schwerbrandverletzten Kindern Remy, drei Jahre alt und Florence, acht. Nach jeweils zwei Operationen zu Beginn unserer ersten Woche und Mitte der zweiten konnten die Wunden bei Florence, deren Körperoberfläche zu 30 % verbrannt war, vollständig mit Hauttransplantaten gedeckt werden, die von Remy, 35 % verbrannt, bis auf einen kleinen Anteil, den das jetzt in Murunda operierende Team unseres Vereines INTERPLAST übernehmen wird. Beide Kinder haben die großen Operationen – in Deutschland würden sie in eigens auf Verbrennungschirurgie bei Kindern spezialisierten Kliniken operiert werden – sehr gut überstanden. Dies sind die Fälle, bei denen man sich sagt: allein einem solchen Kind helfen zu können, lohnt letztlich einen ganzen Einsatz.

Insgesamt 28 Patienten wurden an acht OP-Tagen mit 33 großen Operationen versorgt. Für uns ist immer wieder erstaunlich, wie gut die Hauttransplantate bei unseren afrikanischen Patienten einheilen – trotz des sicher eingeschränkten Hygienestandarts. Wie immer war Ausbildung ein großer Schwerpunkt. Eric und Olivier sind ganz junge Ärzte, frisch von der Uni. Nach unserer Rückkehr erhielt ich von ihnen eine Mail, in der sie sich für die Vermittlung der Kenntnisse und Techniken bedanken. Beide waren am Ende unseres Einsatzes in der Lage, selbst das Dermatom, das Gerät für die Entnahme von Spalthaut zum Zweck der Hauttransplantation, zu bedienen. Ich bin froh, dass alle im Team Ausbildung als so wichtig sehen! Francine, die bei unseren ersten Einsätzen in Murunda dort als Anästhesieschwester arbeitete, jetzt in Kigali in einem Krankenhaus den Bereich Anästhesie leitet, nahm sich Urlaub, um als Teammitglied mit uns zu arbeiten. Danke Francine!

Corona: Die Infektrate an Corona ist in Afrika sicher dramatisch niedriger als bei uns. Jüngeres Durchschnittsalter, stärkeres, weil von Lebensbeginn an besser trainiertes Immunsystem, warmes Klima wie bei uns im Sommer werden als Gründe angeführt. Ich selbst kann hinzufügen: hohe Corona-Disziplin, das Tragen von Masken betreffend. Auch sehen wir jetzt überall Desinfektionsmittelspender zur Händedesinfektion.

In der Western-Provinz Ruandas, zu der Murunda gehört, sind 40% der Bevölkerung zweifach geimpft. Die Regierung Ruandas veröffentlich täglich eine Statistik im Internet. In diesen Wochen sind weitere Impfstofflieferungen angekündigt. Emmanuel, mein Freund in Murunda von Anbeginn, jetzt Leiter eines Health-Centers, wagt die Prognose, dass bis zum Jahresende 80% in seinem Bezirk geimpft sein werden. Wir selbst waren Zeuge einer wohlorganisierten Impfaktion am Sonntag nach dem Kirchgang. In kurzer Zeit waren 1000 Dosen verimpft.

Für die große Zahl an Impfverweigerern in Deutschland – über diese ist man in Ruanda dank guten Internets bestens informiert – haben unsere ruandischen Freunde kein Verständnis. Mir war es sehr unangenehm, ihnen die Motivation der Verweigerer erklären zu sollen. PCR-Test bei Ankunft und vor Ausreise sind in Ruanda Pflicht und wohlorganisiert. Freiwillig führten wir zudem an uns Schnelltests durch, um sicher zu sein, dass wir für die Ruander keine Gefahr darstellten.

PV-Anlage: Unser jüngstes Projekt in Murunda ist die Errichtung einer Photovoltaik-Anlage fürs Krankenhaus. Diese wird die laufenden Energiekosten senken, darüberhinaus leisten wir einen Beitrag zur Kompensation der durch unseren Flüge verursachten CO2-Produktion. Die Materialien sind längst vor Ort. Dazu gehört auch ein modernes Notstromaggregat, mit Flüssiggas betrieben. Flüssiggas kann jetzt, wo die Straße bis zum Krankenhaus durchgehend asphaltiert ist, hergeschafft werden kann. Am Sonntag traf ich Bertrand, den Geschäftsfürer der Montagefirma. Seine coronabedingten Sorgen sind ähnlich denen vieler deutscher Firmen. Er ist aber jetzt, wo die Zahlen in Ruanda sehr niedrig sind, zuversichtlich, die Anlage um den Jahreswechsel in Betrieb nehmen zu können.

Private Begegnungen und Einladungen, eine Bootsfahrt auf dem Kivusee, Tilapiaessen..auch viel Schönes begegnet uns jedesmal. Schnell kam der Abflugtag. Letzte komplette Visite, letzte Verbandswechsel, Angaben bei jedem Patienten zur Nachsorge, Aufräumen unseres Gästehauses für das Nachfolgeteam der Sektion Stuttgart-Münster, welches in erster Linie Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Strumen operieren, sich aber auch zusammen mit Eric und Olivier um unsere Operierten kümmern wird.

Radarfallen: Auf allen asphahltierten Straßen Ruandas sind jetzt, gefühlt alle 5 km, Radarfallen aufgestellt, exakt so aussehend wie die neuen grauen Säulen in Deutschland. Eugene erzählte mir auf der Fahrt, dass bei Geschwindigkeitsübertretungen das Geld gleich vom Konto des Fahrers abgebucht wird. Nebenbei wird mit in den Säulen installierten Kameras der Verkehr überwacht. So viele vernachlässigte Wunden, kein Geld für prothetische Versorgung, aber ein dichtes Verkehrsüberwachunssystem… So viele Widersprüche! 

Verabschiedung, Fahrt nach Kigali, schnell ein paar Souveniers im Caritas-Haus und auf dem Kimirongo-Markt. Komplikationslose Rückreise, pünktliche Abholung durch Heinrich in Brüssel – danke an ihn und Willy, der uns nach Brüssel gefahren hatte. Heute (Sonntag) erhalte ich Nachricht vom Nachfolgeteam. Sie sind auf der Überlandfahrt nach Murunda.

Teilnehmer:

Dr. Hans-Jürgen Rapp, Frankfurt, Anästhesist
Nicole Aylin Dannewitz, Frankfurt, Fachkrankenschwester Anästhesie
Pavol Stolfa, Dresden,  Plastischer Chirurg
Silvia Geling, Vreden, OP-Schwester
Thorsten Huhn, Vreden, Techniker
Dr. Arnulf Lehmköster, Vreden, Plastischer Chirurg und Teamleiter